Gute Führung war immer schon agil!

Sich in der heutigen VUCA1 -Welt erfolgreich neuen Begebenheiten anzupassen, überfordere – so liest und hört man oft – viele Führungskräfte. Schuld daran seien meist – so Leadership-Experten:innen – völlig veraltete hierarchische Führungsansätze. Das neue Zauberwort heisst Agilität. Es prägt derzeit mit Penetranz die Leadership-Diskussion. Der hierarchischen Führung wird ein nahes Ende geweissagt.

Im gleichen Atemzug mit Agilität werden soziokratische Führungsmodelle (oder Im gleichen Atemzug mit Agilität werden soziokratische Führungsmodelle (oder beispielsweise auch Holacracy2) genannt. Diese setzen auf Selbstführung, Eigenverantwortung und gar Schwarmintelligenz. Den Chef/die Chefin gibt es nicht mehr.

Unter Agilität ist wohl zu verstehen, dass in der heutigen, oft chaotischen Welt eine Organisation rasch lernen und dann «richtige» Entscheidungen treffen kann. Aber ist Agilität in der Führung wirklich neu?

Es ist wieder so ein inflationär verwendeter Begriff, der glauben machen will, dass wir die Dinge in den Griff bekommen werden. Dabei ist Agilität keine Methode, sondern vielmehr eine Geisteshaltung und somit eine Frage der Persönlichkeit der Führungskräfte und der Mitarbeitenden und damit auch der Betriebskultur. Und da Agilität in den Menschen liegt, setzt sie nicht notwendigerweise Soziokratie voraus und schliesst auch nicht einfach hierarchische Führung aus.

Bevor das Ende der hierarchischen Führung verkündet wird, müssen sich soziokratische Führungsmodelle in grossem Massstab bewähren. In der Schweiz gibt es heute verschiedene Firmen (z.B. Swisscom, Freitag, Liip), wo diese neuen Führungsansätze (in Teilorganisationen) gelebt werden. Ob und wie erfolgreich lässt sich meiner Ansicht nach erst nach einem längeren Beobachtungszeitraum feststellen. International gibt es jedoch Unternehmen, welche mit soziokratischen Führungsmodellen seit längerer Zeit erfolgreich funktionieren (Morning Star, FAVI, Patagonia, Buurtzorg, um nur einige zu nennen). Frederik Laloux berichtet in «Reinventing Organizations» enthusiastisch darüber3 . Solche Unternehmen bilden aber auch heute noch die Ausnahme.

Hierarchisch geführte Organisationen sind in der Schweiz bis heute gelebte Realität. Und da viele davon auf äusserst kompetitiven und volatilen internationalen Märkten sehr erfolgreich unterwegs sind, dürfte es um ihre Agilität nicht allzu schlecht bestellt sein. Hier ist dann auch die Frage erlaubt, ob sich Inhaber:innen einer bodenständigen KMU (und davon gibt es in der Schweiz ja nicht wenige) für Soziokratie als Führungsmodell entscheiden würden.

Auf Selbstführung basierende Führungsansätze oder Betriebssoftwaren sind jedoch zeitgeistig. Solche Führungsmodelle funktionieren aber nur, wenn Profis die gemeinsame Sache über die eigene Agenda stellen können. Es braucht Mitarbeitende, die ein solches Führungsmodell mittragen, im Team und gegen aussen solidarisch, respektvoll und flexibel agieren, kritisch mitdenken, sich sachdienlich und gezielt austauschen und bereit sind, Verantwortung zu übernehmen. Das wollen und können aber längst nicht alle!
Nach Herbert A. Simon lassen sich Menschen auch im Beruf in erster Linie von ihren persönlichen Wünschen und Zielen leiten4. Bewusstes Wir-Gefühl, Solidarität und Sachorientierung sind offensichtlich doch knappe Güter.

Ein Führungssystem ist nur so gut, wie die Menschen, aus denen es besteht. Bei guter Führung kommt es in erster Linie auf den Menschen und nicht auf die Betriebssoftware an. Fachliche Kompetenzen sind unabdingbar und meist (er)lernbar. Die Persönlichkeit ist jedoch für den (langfristigen) Führungserfolg entscheidend! Und Persönlichkeitsmerkmale bzw. charakterliche Grundzüge lassen sich nicht so einfach verändern – schon gar nicht durch eine theorielastige Führungsausbildung.

Die aktuelle Diskussion über Agilität und deren Heilsversprechen verdeckt teilweise ein grundlegendes Problem: Bei rund 600’000 marktwirtschaftlichen Unternehmen in der Schweiz5 ist zu bezweifeln, dass es genügend hinreichend talentierte, willige und integre sprich kompetente Führungskräfte gibt. Die Frage ist für mich nicht, ob soziokratische Führungsansätze die Zukunft sind oder hierarchische Führung out ist, sondern welches Führungsmodell unter welchen Umständen die bessere Option darstellt und wie Führung generell verbessert werden kann.

Gute Führung war schon immer agil – und knapp!

  1. Eine Welt, die durch folgende Faktoren im Wesentlichen bestimmt wird: V = Volatility (‘Flüchtigkeit’), U = Uncertainty (Unsicherheit), C = Complexity (Komplexität), A = Ambiguity (Mehrdeutigkeit)
  2. Holacracy (gr. holos ‘vollständig/ganz’ und kratie ‘Herrschaft’). Vom Amerikaner Brian Robertson entwickelte agile Betriebssoftware, bei der Personen und Rollen getrennt und letztere in Kreisen organisiert sind.
  3. Siehe: F. Laloux (2015), Reinventing Organizations. Ein Leitfaden zur Gestaltung sinnstiftender Formen der Zusammenarbeit. Vahlen.
  4. Herbert A. Simon US-Sozialwissenschaftler und Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften 1978 beschreibt solche Phänomene in seiner Verhaltenstheorie der Unternehmung.
  5. https://www.kmu.admin.ch/kmu/de/home/aktuell/news/2018/mehr-als-600000-unternehmen-in-der-schweiz.html